Zwischen den Kanälen von Hamburg und Venedig
spielt mein neues Buch
Liebe Leserin, lieber Leser,
die Handlung in diesem Buch ist ausschließlich meiner Phantasie entsprungen! So wie auch die beiden vorherigen Teile der Serie frei erfunden sind…
Dieses Mal gibt es jedoch Unterschiede:
Die Geschichte Abdel bin Rahmans, die von den Polizisten gelesen wird, sowie die Geschichte Marco bin Kanafaris, die ich am Ende angefügt habe, sind Tatsachenberichte. Sie sind von den beiden Protagonisten selbst verfasst worden.
Ursprünglich hatte ich vor, authentische Lebensgeschichten in extra Kapitel aufzunehmen. Zu diesem Zweck durfte ich mehrmals in einer Geflüchtetenunterkunft hospitieren und u.a. am Deutschunterricht für Erwachsene teilnehmen.
Ein großes Dankeschön dafür!
Es war eine beeindruckende Erfahrung für mich. Ich habe entsetzliche Dinge gehört und Menschen erlebt, die versuchen, diese Dinge hinter sich zu lassen und nach vorn zu schauen.
Eine Freundin, die als freiwillige Unterstützerin in einer anderen Unterkunft hilft, durfte mir ebenfalls Auszüge aus einigen Lebensgeschichten erzählen. Allerdings unter der Auflage, dass sie nicht in einem Buch erscheinen dürfen.
So habe ich mich irgendwann von meiner ursprünglichen Idee verabschiedet. Aus Respekt vor den Menschen, die bereit waren, schreckliche Erlebnisse mit mir, aber eben nur mit mir, zu teilen.
Am Ende gab es trotzdem eine Überraschung! Zwei Menschen haben mich darum gebeten, ihre Geschichte doch zu veröffentlichen. Sie möchten nicht, dass ihr Leiden in Vergessenheit gerät.
Ich habe diese beiden Berichte mit anderen Namen versehen.
Alle Geflüchteten, die mir ihre Erlebnisse anvertraut haben, werden immer noch verfolgt, oder haben zumindest Angst davor.
في البداية كانت نيّتي أن أُدرجَ في فصولِ كتابي قصصً من وحي الواقع ؛ قصصً حقيقةً بتفاصيلها. وفي سبيلِ هذا الغرض، سُنحت ليَّ الفرصةُ للتَدرُبِ في إحدى مساكنِ اللاجئين لعدةِ مرات. بالإضافةِ إلى القيامِ بأمورٍ آُخرى كالمشاركةِ في دروسِ اللُغةِ الألمانيةِ للبالغين.
شكراً جزيلاً على تلك التجربة.
لقد كانت تجربةً مدهشةً بالنسبةِ ليّ. سمعتُ أشياءً مرّوعةً، وقابلتُ أشخاصاً يحاولون تركَ هذهِ الآلام وراءهم ويتطَلعون إلى الأمام.
كما أنّ إحدى صديقاتي، والتي تعملُ كمتطوعةٍ في مسكنٍ آخر للاجئين، قامت بإخباري بمقتطفاتٍ عن بعض القصصِ الحقيقةِ التي قابلتها. ولكن شرط ألا يُشارَ إليها في الكتاب أو يذكرَ أسمها.
لكن وفي وقتٍ لاحقٍ عَدلتُ عن فكرني الأصلية، وذلك احتراماً للأشخاص الذين اطّلعوني على تجاربهم المُرّوعة، وأرادوا مشاركتها معيَّ فقط.
وفي النّهايةِ كانت المفاجئة. طَلبَ مني شخصان نشرَ قِصَتهِما رغمَ الألم. إنهما لا يُريدان أن تُنسى معاناتُهما.
لقد أطّلقتُ على أصحابِ هاتين القصتين أسماءً مستعارة.
جميعُ اللاجئينَ الذينَ أفضوا ليّ بأسرارهم وتجارُبهم مازالوا يتعرضونَ للاضطهادِ والملاحقةِ، أو على الأقل لديهم تخوفٌ من ذلك.
Zudem ist auch die »Ayise« aus dem Buch nicht hundertprozentig meine Erfindung. Die Frau, die ich zum Vorbild nehmen durfte, hat mir natürlich ihr Einverständnis gegeben.
Jemand sagte einmal über sie: Gäbe es sie nicht – man müsste sie erfinden!
In Venedig haben mir viele Menschen unglaublich geholfen! Niemand von ihnen möchte erwähnt werden.
Aber hier mein Dank an euch!
Ich hoffe, dass mein Buch irgendwann auf Italienisch erscheint, damit ihr es lesen könnt!
A Venezia, molte persone mi hanno aiutato incredibilmente! Nessuno di loro vuole essere menzionato.
Ma ecco i miei ringraziamenti a voi!
Spero che un giorno il mio libro venga pubblicato in italiano, così che possiate leggerlo!
Die beschriebenen Fake-Taschenverkäufer wird man auf dem Markus-Platz vergeblich suchen. Der Verkauf dieser Handtaschen ist in Italien strafbar. Im Übrigen auch unnötig, denn die Leder-Produkte aus nationaler Herstellung können sich auch ohne Designer-Label sehen lassen…
Der Chorauftritt der achten Klassen der Max-Brauer-Schule fand tatsächlich am 13. Juni 2019 im Mercado in Hamburg Altona statt! Ich war zufällig gerade einkaufen.
Und ich habe wieder einmal festgestellt – Musik bewegt!
Einer Frau zumindest, kann ich hier offen meinen Dank aussprechen – meiner Mörderischen Schwester Fenna Williams!
Auf ihren wunderbaren Schreib-Retreats in Venedig habe ich mich in die Stadt verliebt!
Leseprobe
Arbeitstitel: Die ewige Flucht/Tod zwischen Kanälen
Sie hatte einen langen Tag hinter sich. Das war nichts Ungewöhnliches. Doch heute war alles anders gewesen, schlimmer.
Endlose Schichten warfen sie nicht mehr um, auch menschliches Leid war ihr in den letzten Monaten erschreckend vertraut geworden. Selbst ihre Schützlinge konnten sie kaum noch überraschen. Wie jeden Morgen war sie davon ausgegangen, einen stinknormalen Arbeitstag vor sich zu haben. Doch was bedeutete schon normal bei dem was sie tat? Irgendetwas passierte immer. Hundertprozentig, obwohl man sich sonst auf wenig verlassen konnte. Dort, wo sie arbeitete, in diesem eingezäunten Areal verlorener Hoffnungen. Im Volksmund wurde es schlicht: Asylantenheim genannt, die behördlich korrekte Bezeichnung lautete: Erstaufnahme für asylsuchende Geflüchtete.
Begriffe, die lediglich Überschriften waren, für etwas, von dem die meisten Mitmenschen nur eine vage Vorstellung hatten.
Etwas Bedrohliches hatte heute an die Tür geklopft. Ausgerechnet an diesem elenden Ort, an dem die Mehrheit versuchte, zu vergessen und die inneren und äußeren Wunden zu heilen . Sie ballte die Fäuste. Die Ereignisse würden alle überrollen. Ein Wort flackerte in monströsen Lettern hinter ihrer Stirn. Polizei.
In diesem Moment bemerkte sie zahlreiche Vertreter der Presse vor dem Tor. Daran hätte sie denken können! Gerade bereitete sie sich auf eine Konfrontation vor, den Kopf gesenkt wie ein Stier vor dem Angriff, da entfernten sich die Reporter. Wie Eisenspäne an einen Magneten, strebten alle einem gemeinsamen Punkt zu. Ayise schaute verblüfft hinterher. Auf jeden Fall ging es weg von ihr, sie fasste sich und eilte zum Parkplatz.
Nach einem letzten Blick über die Schulter kehrten ihre Gedanken zurück zu dem, was sie morgen erwartete. Eine Mordermittlung! Was sie erfahren hatte, war schrecklich. Bei der Erinnerung überlief es sie kalt. Sie atmete tief durch. Doch dann stieg Wut in ihr auf. Sie würde keinem Polizisten der Welt je über den Weg trauen! Das Ergebnis stünde für die doch von vornherein fest, irgendein armes Würstchen würde als Sündenbock herhalten müssen. Und innerhalb kürzester Zeit wäre die Arbeit von ihr und ihren Kollegen in der Tonne: die Polizei hätte die Asylbewerber der Hoffnung auf Gerechtigkeit in diesem Land beraubt. Zähneknirschend dachte sie an die mühsamen Versuche, Menschen einerseits ihr beinahe kindlich naives Vertrauen zu bewahren und sie gleichzeitig auf die Realität vorzubereiten.
Vor ihrem verbeulten Auto blieb sie stehen. Bevor sie aufschloss, schlug sie mit der Faust aufs Dach, was bei ihrer Größe nicht einfach war.
Sie warf sich auf den Fahrersitz und wühlte in ihrer voluminösen Handtasche. Auch das noch! Hatte sie wieder nicht aufgepasst, hatte ihr doch wieder irgendjemand die Zigaretten geklaut? Als sie die Packung mit den Fingerspitzen berührte, meldete sich ihr schlechtes Gewissen. Es war so leicht, immer das scheinbar Offensichtliche zu denken. Aber damit lag man eben sehr oft falsch.
Sie zündete sich eine Filterlose an und inhalierte gierig. Was konnte sie tun? Langsam nahm eine Idee in ihrem Kopf Gestalt an. Entschlossen drückte sie die halb gerauchte Kippe in den Aschenbecher und zog sich die Lippen nach. Sie leuchteten karmesinrot in der Dunkelheit.
Nach einer knappen Dreiviertelstunde bog sie in die Ehrenbergstraße. Wenig überraschend für diesen Stadtteil, war weit und breit kein Parkplatz in Sicht. Sie blieb im Halteverbot stehen. Nach kurzem Zögern zog sie den Zündschlüssel. Beim Aussteigen schimpfte sie leise auf Türkisch vor sich hin. Sie knallte die Tür zu, vergaß abzuschließen und marschierte los, in dem ihr eigenen, unverwechselbaren Gang. Energisch, dynamisch, ab und zu ein kleiner Hüpfer. Die Haare wogten wie Medusas Schlangen um ihren Kopf. Vor der Tür sah sie sich nach allen Seiten um, bevor sie auf Zehenspitzen den obersten Klingelknopf drückte.
»Detektei Wagner, was können wir für Sie tun?«, flötete es aus der Gegensprechanlage.
In der Detektei im dritten Stock stand die Besitzerin der Stimme, ehrfurchtgebietend groß und eine Hälfte der zwei Detektive. Sie beugte sich leicht von der Sprechanlage zurück, um ihrem Zwillingsbruder einen verwunderten Blick um seine halb geöffnete Bürotür zuzuwerfen. Wagner saß an seinem Schreibtisch und zuckte die Schultern. Währenddessen strömte eine Wortflut aus dem Hörer.
»Ayise!«, unterbrach Val endlich den Strom, »Was für eine Überraschung! Komm rauf!«
»Du erinnerst dich an Ayise?», fragte sie ihren Bruder, »Ich habe sie beim Flüchtlingscafé in Hummelsbüttel kennengelernt. Sie hat mich einmal nach Hause zum Essen eingeladen. Köstlich! Und einmal war sie auch bei uns.«
Ihr Bruder erhob sich langsam. »Stimmt. Deine Kochkünste waren, nun ja…«
»Schon gut! Leider trinkt sie nur Pfefferminztee. Und Wasser.«
Kaum waren die Schritte oben angekommen, riss Val die Tür auf.
»Bonjour! Aber natürlich erinnere ich mich an dich! Wer könnte dich vergessen?« Nach einigen Sekunden fügte sie hinzu: »Und deine Kochkünste!«
Ihr Gegenüber lächelte erleichtert von unten zurück. Ein Energiebündel wie ein Kugelblitz. Das sich jetzt ungeduldig über die widerspenstige Mähne strich.
»Komm rein!«
Drinnen sah Ayise sich unverhohlen um, Zurückhaltung war nie eine Stärke von ihr gewesen. Takt auch nicht. Val beobachtete sie amüsiert. Dann kam ihr Bruder aus seinem Büro, und Ayise beendete ihre Inspektion. Sie strahlte ihn an.
»Hallo, mein Lieber! Du siehst phantastisch aus!«
Er war der Gegenpol seiner Zwillingsschwester, ruhig, beinahe schüchtern. Bevor er etwas erwidern konnte, unterbrach diese ihn schon.
»Was führt dich her ma chère? Ein rein freundschaftlicher Besuch, oder hat es mit dem Flüchtlingscafé zu tun?«
»Hm, beides auch ein bisschen. Aber vor allem brauche ich eure Unterstützung als Detektive!«
Die Geschwister sahen sich an.
»Wenn das so ist«, sagte Val, »dann gehen wir in unser Büro!«
»Möchtest du einen Pfefferminztee?«, fragte ihr Bruder.
Ayise nickte und er verschwand in der Küche.
»Heute ist die Polizei bei uns in der Unterkunft gewesen. Das kommt zwar öfter mal vor, aber diesmal gab es einen schrecklichen Anlass.«
Sie hatten es sich im Konferenzraum bequem gemacht. Ayises Worte hingen in der Luft. Nach kurzem Schweigen brach es aus ihr heraus: »In der Nähe der Unterkunft haben sie ein totes Kind gefunden!«
Sie sah von Val zu ihrem Bruder. Dann fuhr sie fort: »Irgendein Idiot hat jemand in einem schwarzen Hoody vom Tatort weglaufen sehen! Jetzt ratet mal, wen sie zuerst verdächtigt haben? Die wollten allen Ernstes wissen, ob einer unserer Bewohner ein schwarzes Hoody hat!« Sie wischte sich mit einer Hand über die Stirn. »Was glaubt ihr? Jeder ZWEITE hat so ein dämliches schwarzes Teil! Abgesehen davon, auch jeder zweite Betreuer – aber das interessiert natürlich keinen!«
Val blinzelte. Erinnerungen an den ersten Fall der Detektei fluteten ihr Gedächtnis. Sie hatte verstörende Einblicke in die Kinderpornografie-Szene erleben müssen.
»Geht es um Missbrauch?«, fragte sie.
Ayise starrte einige Sekunden vor sich hin.
»Ich fürchte ja!«, erwiderte sie heiser. »Aber die Geflüchteten um die es geht, sind nicht so! Sie wollen keinen Sex mit Kindern! Fast alle haben schreckliche Dinge erlebt. Sie möchten nur vergessen!« In ihre Augen hatte sich ein flehender Ausdruck geschlichen. Sie war sicher, dass nur ein winziger Tropfen fehlte, um das Fass an ihrem Arbeitsplatz zum Überlaufen zu bringen. Erinnerungen an Unaussprechliches lauerten wie Sprengstoff am Grund, hineingespült von einer Flut aus Tränen. Mittlerweile gärte es in diesem Fass. Nur ein kleiner Funke noch, und eine gewaltige Explosion würde folgen.
Val hatte aufmerksam zugehört. »Das klingt nicht ungefährlich! Was sagt die Polizei…?«
Ayise stieß ein kleines Schnauben aus.
Die Geschwister warfen sich einen Blick zu.
»Weißt du wie der Ermittlungsleiter heißt?«
»Wie irgend so ein Typ aus dem Paradies!«
Val prustete los. Ihr Bruder sah sie strafend an.
»Adam?«, fragte er.
»Ja richtig, genau!« Erleichtert sah Ayise von ihm zu seiner Schwester. »Er sieht eigentlich ziemlich gut aus…«
Val grinste diesmal sehr breit.
»Aber das wissen wir doch!«
Ihr Bruder verdrehte die Augen.
»Siegfried ist integer und auf keinen Fall rassistisch!«
Spöttisch erwiderte seine Schwester: »Und er sieht gut aus! Wir müssen auch für Kleinigkeiten dankbar sein!«
Bevor Wagner antworten konnte, sagte Ayise: »Gut, dann bin ich auch dankbar! Aber wir brauchen trotzdem Hilfe. Die meisten unserer Bewohner haben fürchterliche Angst vor der Polizei. In ihrer Heimat wurden sie oft von denjenigen verfolgt, die sie eigentlich schützen sollten! Einige wurden gefoltert, andere mussten mitansehen, wie ihre Familien ermordet wurden. Könnt ihr euch ein ungefähres Bild machen?«
Wagner wischte sich über die Augen. Er war einfach zu sentimental! Seine Schwester runzelte die Stirn.
»Du möchtest also, dass wir die Unschuld der Geflüchteten beweisen. Wir sollen den wirklichen Täter finden. Das heißt, du gehst zu hundert Prozent davon aus, dass der Schuldige nicht im Asylantenheim zu finden ist!«
Die kleine Türkin strahlte Val an und nickte.
Hauptkommissar Siegfried Adam zog eine Augenbraue hoch. Seine Kollegin musterte ihn von der Seite.
»Ich find’s auch nicht toll«, raunte sie ihm zu. »Wir hatten halt Pech! Hätten wir etwas pünktlicher den Stift fallengelassen…«
Adam seufzte lautlos. Wenn es nur das wäre! Natürlich war es ärgerlich, kurz vor Dienstende noch ausrücken zu müssen. Aber viel mehr beschäftigte ihn das Opfer, das halbnackt in den Büschen vor ihnen lag. Aminata-Marie Neubauer war eine gute Polizistin. Sie konnte persönliche Gefühle ausblenden. Das gelang ihm normalerweise auch. Nur bei Kindern hatte er ein Problem. Vielleicht lag es daran, dass er eine neunjährige Tochter hatte. Und der tote Junge, der dort wie Abfall entsorgt worden war, war höchstens zehn, maximal zwölf Jahre alt.
Adam räusperte sich. Er wendete seine Augen vom Fundort ab und betrachtete die Umgebung. Ein kleiner grüner Seitenstreifen, eine Oase im Häuserdschungel. Etwas abseits vom Weg und ein gutes Stück von der Straße entfernt. Zwei Personen näherten sich vom Parkplatz. Die eine war Mac Allistair, der Rechtsmediziner. Die zweite war der neue forsche Staatsanwalt. In Adams Augen nicht mehr als ein Küken. Er war genauso harmlos, riss aber den Schnabel auch genausoweit auf. Adam war ihm vor wenigen Tagen zum ersten Mal begegnet. Dabei hatte er ihn, wie man so schön sagt: ›gewogen und zu leicht befunden‹. Die Entscheidung, die der neue Staatsanwalt während einer laufenden Ermittlung getroffen hatte, war für Adams Geschmack äußerst unbefriedigend gewesen. Und auch heute schien das Küken Adams Vorurteile bestätigen zu wollen. Der schicke enge Anzug zum Beispiel. Adams Augen wanderten zu den Schuhen. Grauenhaft! Spitz und modisch, keine Klasse.
»N‘Abend«, sagte das Küken.
Fernando Mac Allistair, der allgemein nur Mac genannt wurde, ging grußlos an Adam vorbei zum Fundort. Er trug schon weißen Vlies, offenbar hatte er bereits am Parkplatz die Schutzkleidung übergezogen. Nur die Überzieher für die Schuhe baumelten noch in seiner Hand.
Adam knurrte eine Erwiderung an den Staatsanwalt und sah Mac hinterher. Das Gelände wurde abgeriegelt, Flatterbänder gespannt und zwischendurch Posten aufgestellt. Das blaue Einsatzlicht der Streifenwagen zuckte über die Szenerie. Uniformierte Kollegen standen bei dem Notarztwagen, vor dem ein Mann auf einer Art Campingstuhl saß. Man hatte ihm eine Decke um die Schultern gelegt. Selbst auf die Entfernung war seine geisterhafte Blässe zu erkennen. Adam gab sich einen Ruck. Er ignorierte das Küken, gab Neubauer ein Zeichen, ihm zu folgen und steuerte auf den angeblichen Zeugen zu. Aus den Augenwinkeln sah er, wie der Staatsanwalt den Mund öffnete.
»Guten Abend! Adam, Kriminalhauptkommissar. Sie haben das Opfer gefunden?«
Der Mann trug eine graue Jogginghose und Basketballschuhe. Ansonsten wirkte er wenig sportlich. Unter der Decke war ein fleckiges Rippenunterhemd zu erkennen, das sich über einem beachtlichen Bauch spannte. Ein Blick reichte, und Adam war überzeugt, dass der Zeuge in den Hochhäusern an der Peripherie des Stadtteils zu Hause war. Der Mann blickte mit glasigen Augen zu ihm auf. Neubauer legte eine Hand auf Adams Arm. Es war ungewöhnlich, dass sie so persönlich wurde. Adam runzelte die Stirn und musterte sie, bevor er sich endgültig dem Mann zuwandte.
»Fühlen Sie sich in der Lage, mir einige Fragen zu beantworten?«
Das Gesicht des Mannes war verquollen. Er schien geweint zu haben. Mehrmals musste er Anlauf nehmen, bevor seine Stimme ihm gehorchte. Während Adam überlegte, was die Kommissarin ihm zu verstehen geben wollte, hatte der Mann sich so weit gefasst, dass er zusammenhängende Sätze hervorbringen konnte.
»Ich war aufm Weg nach Hause. Von der Kneipe ne Abkürzung, wenn ich hier langgehe. Ich konnt doch nich wissen…« Seine Stimme versagte.
Adam musterte ihn genauer. Dabei erkannte er das Elend, das der Mann ausstrahlte wie eine negative Sonne. Arbeitslos, Alkoholiker, keine Perspektive. Wahrscheinlich betrunken und nur durch den grässlichen Fund plötzlich und unerwartet schockgenüchtert. Adam nickte Neubauer zu. Keine Angst, sagte sein Blick, ich ziehe meine Samthandschuhe an!
»Rauchen Sie?«
Der Mann zog seine Stirn in Falten. Dann hellte sein Gesicht sich auf.
»Schon«, sagte er. »Wenn Sie ne Kippe für mich hätten…«
»He, Mac, lässt Du mal ne Zigarette für den Mann hier rüberwachsen?«
Mac Allistair richtete sich nicht auf, er griff nur wortlos in seinen weißen Vliesanzug und holte eine Zigarettenschachtel darunter hervor. Mit einem Arm hielt er sie hoch. Adam ließ seinen Blick von Neubauer Richtung Zigarettenpackung wandern. Seufzend setzte sie sich in Bewegung.
»Also – können Sie uns schildern, was Sie heute Abend gesehen haben?«
Der Mann zog gierig an der Zigarette.
»Wie gesagt, ich hab die Abkürzung genommen. Ich geh hier also lang, da hör ich im Gebüsch son Geräusch, so ne Art Stöhn‘n. Das hörte nich auf, das wurde immer lauter. Also bin ich hin, um nachzusehn.« Er schüttelte sich und saugte wieder an seiner Zigarette, wie ein Ertrinkender.
»Das krieg ich nie wieder ausm Kopp! Ich seh dat Kind da liegn und plötzlich is alles still. Kein Geräusch mehr. Kein stöhn‘n, nix. Alles tot!« Er ließ die Kippe fallen und trat sie aus.
»Ey Mann, meine Freundin hat ein Kind, das is vielleicht genauso alt. Der Gedanke macht mich fettich!«
Adam konnte nicht anders, er musste an Louisa denken.
»Haben Sie jemanden in der Nähe gesehen?«, fragte er, während er innerlich fluchte und versuchte, seine Tochter aus seinen Gedanken zu verbannen.
»Kann ich nich sagen. Dieser Junge, dieses Stöhn‘n, ich weiß nich mehr, was um mich rum los war!«
»Haben Sie den Fundort äh, verändert? Ich meine, haben Sie das Kind angefasst?«
Der Mann starrte ihn verwundert an.
»Ich bin hin. Ich hab mich aufn Boden gekniet, trotz meine kaputten Knie! Ich hab das Kerlchen hochgenommen. Aber det war zu spät. Der hat sich nich mehr gerührt!«
Er sah an Adam vorbei auf den Fundort und schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, schien er Aminata Neubauer zum ersten Mal bewusst wahrzunehmen. Sein Gesicht verfinsterte sich.
»Vielleicht hab ich doch was gesehn! Ich glaub, als ich das Stöhn‘n gehört hab, als ich noch nich wusste, was da im Gebüsch liegt, da hab ich jemand wegrenn‘n sehn!« Sein Blick blieb an der Kommissarin hängen.
»Konnten Sie etwas erkennen? Wie sah die Person aus? Was hatte sie an?«
»Ich glaub sie sah aus wie die da!« Er zeigte auf Neubauer. Adam runzelte die Stirn.
»Wie meine Kollegin? Was meinen Sie damit? Handelte es sich um eine Frau?«
»Ne, wohl eher ein Typ. Aber der Kerl war schwarz!« In die Augen des Mannes trat ein bösartiges Funkeln.
»Wir hams ja immer gewusst, dass das nich gut geht! Dahinten hockt die ganze Mischpoke, die wolln sich nich nur unser sauer verdientes Geld untern Nagel reißn!«
Auf seinen Ausbruch folgte ein Moment der Stille.
»Er meint wahrscheinlich die Asylantenunterkunft, die hier in der Nähe ist!«, sagte Neubauer leise zu Adam. Der kniff leicht die Augen zusammen, bevor er nickte. »Sie sagten, die Person sei weggerannt. Was machte das für einen Eindruck auf Sie. Sie hatten das Opfer ja noch nicht gefunden. Hatten Sie das Gefühl, derjenige war bei etwas gestört worden und wollte sich aus dem Staub machen? Oder war es eher so, dass er aus Angst weglief, wurde er vielleicht selbst verfolgt?«
Adam zwang sich zu einem neutralen Gesichtsausdruck. Er ging nicht mehr davon aus, eine hilfreiche Antwort zu bekommen. Zeugen wie der Mann vor ihm, neigten dazu, ihre Gesinnung mit ihren Beobachtungen zu vermischen. Sofern der Mann überhaupt etwas gesehen hatte, würde er sich solange einreden, dass es seine Vorurteile bestätigte, bis er selbst davon überzeugt war. Aber trotzdem konnte Adam die Aussage nicht einfach abtun.
»Fällt Ihnen sonst noch etwas ein? Zu der Person, die weggerannt ist, oder zu dem Jungen, den Sie gefunden haben?«
»Ne. Oder doch. Der hatte son schwarzes Teil an, mit ner Kapuze dran. Mehr weiß ich nich, da hatte ich nämlich ins Gebüsch gesehn. Da wurde mir scheißübel!«
»Vielen Dank für Ihre Aussage. Nati, wir gehen rüber zu Mac. Unser Zeuge befindet sich ja in guten Händen!«
Er deutete auf die Sanitäter, die in der Nähe warteten. Sie nickte wortlos. Dass sie nicht auf ihren Spitznamen reagierte, zeigte Adam, wie betroffen sie von der Art des Mannes war. Normalerweise hätte sie unweigerlich mit einem Sigi gekontert. Der überaus verhassten Kurzform seines ungeliebten Vornamens. Die Personalien des Mannes hatten die uniformierten Kollegen aufgenommen, und so ließen Adam und Neubauer ihn ohne ein weiteres Wort zurück.
Sie öffnete gerade den Mund, um etwas zu Adam zu sagen, da rauschte das Küken heran. Staatsanwalt Dr. Mauritz Tell. Ihr blieben die Worte im Halse stecken. Adam sah von ihr zu Dr. Tell und hob eine Augenbraue.
»Können wir Ihnen helfen?«
»Ob Sie mir helfen können?«, Mauritz Tell schnaubte.
»Wie Sie vielleicht wissen, bin ich der zuständige Staatsanwalt! Bevor Sie weitere eigenmächtige Handlungen vornehmen, hätte ich gern eine Berichterstattung über den aktuellen Sachverhalt!«
Adam und Neubauer warfen sich einen Blick zu.
»Lückenlos!«, fügte der Staatsanwalt in dem Moment hinzu.
Adam erinnerte sich wieder an den einzigen Grund, der ihm eine Beförderung schmackhaft machen könnte – je höher die Position, desto weniger abhängig von Wichtigtuern. Andererseits – vielleicht müsste er dafür zu oft Golfschläger mit Arschlöchern schwingen. Er seufzte übertrieben.
»Der Zeuge sagt aus, er hätte jemanden verschwinden sehen. Kurz bevor er den Fundort kontaminiert hat.«
»Das kann man ihm wohl kaum vorwerfen«, fauchte Tell. »Aber zur Sache, konnte er Angaben über die flüchtende Person machen?«
Adam zuckte die Schultern.
»Angeblich ein dunkelhäutiger Mann in einem schwarzen Kapuzenpullover.«
Der Staatsanwalt schien nachzudenken.
»Hm«, sein Blick blieb an Neubauer hängen. »Sie wissen, dass hier gleich um die Ecke ein Erstaufnahmelager ist?«
»Das haben wir tatsächlich schon herausgefunden…« Adam sah ihn spöttisch an. »Möchten Sie etwas andeuten?«
»Ich möchte überhaupt nichts andeuten!«, donnerte Tell, »ich verlange nur, dass Sie gründlich und vor allem sensibel vorgehen!«
»Gründlich und sensibel – verstanden! Wird erledigt, Doktor Tell!«
Der Staatsanwalt holte Luft. Aber dann drehte er sich nur um und ging zu seinem Wagen.
Adam grinste. »Du hast es gehört: Wir versuchen es ausnahmsweise mit gründlich und sensibel!« Doch im nächsten Moment wurde er ernst.
»Wir statten dem Asylantenheim einen Besuch ab. Ist ja gleich um die Ecke. Schauen wir mal, ob da was kocht!«
Sie hatten eine erste Spur, der wollte er folgen, solange sie warm war. Neubauers Blick interpretierte er als Zustimmung.
Sie befanden sich in einem Container direkt am Eingang der Unterkunft. Einlasskontrolle der Security-Firma. Die Metallschranken waren heruntergelassen. Zwei Männer vom Wachdienst kontrollierten akribisch ihre Ausweise. Es hatte in letzter Zeit Übergriffe gegeben. Kein Spaß für Menschen mit dunklerer Hautfarbe. Sie waren angegriffen und bespuckt worden und eine kleine Meute hatte versucht, sich Zutritt zur Unterkunft zu verschaffen. Außerdem kursierten Gerüchte über einen Anschlag, bei dem es Unbekannten gelungen war, den Zaun einer Geflüchtetenunterkunft zeitweise unter Strom zu setzen. Die Kontrollen waren entsprechend verschärft worden. Adam und Neubauer hängten Besucherausweise um.
Die Kommissarin stapfte hinter Adam her.
»Aminata…?«
»Alles klar, Chef!«
»Dann ist ja gut! Es gibt viel zu tun! Und unser Feierabend rückt gerade in unendliche Weiten…«
»Als wenn das etwas Neues wäre…«, sie pfiff die Melodie von ›Raumschiff Enterprise‹.
Adam ging auf den Container mit dem Schild: Sozialstation zu. Drinnen sahen ihnen zwei Augenpaare hinter und eins vor dem Tresen entgegen. Adam nahm nacheinander jedes ins Visier. Schließlich blieb sein Blick an der Person vor dem Tresen hängen.
»Haben Sie hier etwas zu suchen? Sonst muss ich Sie bitten, zu gehen. Hier findet eine polizeiliche Ermittlung statt!«
Einer der Männer hinter dem Tresen räusperte sich. Er sagte etwas zu dem dunkelhäutigen Mann vor sich, das in Adams Ohren wie Arabisch klang. Der junge Mann fuhr zusammen und drängte blitzschnell an Adam vorbei zur Tür. Mit gesenktem Kopf warf er noch einen schnellen Blick auf die Polizisten, bevor er verschwand. Adam runzelte die Stirn.
»Was war das jetzt? Was haben Sie ihm erzählt?«
Der Angestellte, der offensichtlich selbst nahöstliche Wurzeln hatte, lächelte entwaffnend.
»Ich habe nur übersetzt, was Sie gesagt haben!« Er richtete seinen Blick auf Neubauer. »Im Allgemeinen reicht hier die Erwähnung der Polizei. Für die meisten Bewohner sind positive Erfahrungen mit Gesetzeshütern die Ausnahme… Zumindest in ihrem bisherigen Leben und in ihrem eigenen Land. Und dieser junge Mann ist noch nicht lange bei uns.«
Sein Blick wanderte zurück zu Adam. Inzwischen war sein Kollege aufgestanden und hatte sich neben ihn gestellt. Er nickte bekräftigend.
»Wie wollen Sie eigentlich vorgehen? Wir haben hier zirka 60 Männer, 40 Frauen und an die 50 Kinder. Die fallen ja wohl raus, und die Frauen auch, wenn ich richtig verstanden habe… Aber wie wollen Sie allein diese 60 Männer befragen?«
Wie sich herausstellte, war die Belegschaft über den Grund ihres Erscheinens informiert worden. Der Empfang hatte keine Zeit verloren.
»Schön, dass Sie schon wissen worum es geht. Den Rest überlassen Sie einfach uns.« Adams Gesicht war unbewegt. Neubauer sah ihn an und räusperte sich.
»Mein Chef meint, auch Frauen oder Kinder könnten etwas beobachtet haben!«
»Danke, Nati! Also die Alibis der Männer! Wer hat eins, wer nicht. Dann Frauen und Kinder, sie haben meine Kollegin gehört: Wer könnte etwas gesehen haben? Das alles so schnell wie möglich, bevor sie Zeit haben, sich abzusprechen.« Adam zögerte, dann schloss er an: »Sofern der Täter überhaupt von hier kommt!«
»Ah, dann doch! The benefit of the doubt!« Die Betreuer warfen sich einen vielsagenden Blick zu. »Vielen Dank, dass Sie immerhin Raum für Zweifel lassen!« Der Blonde fügte hinzu: »Wenn Sie nämlich auf die besorgten Anwohner aus der Umgebung hören würden, wäre hier jeder männliche Bewohner verdächtig! Und die, die in diesem Fall ausnahmsweise nicht schuldig wären, wären es garantiert beim nächsten Mal!« Sein Kollege grinste. »Und sonst halt die Kanaken-Betreuer, besonders, die, die selbst welche sind!«
»Aha. Danke für die Aufklärung. Wo können wir potentielle Zeugen befragen?« Er trommelte mit den Fingern auf den Tresen. »Wir möchten ungern Menschen aus dem Schlaf reißen und mit aufs Revier nehmen müssen…«
Die Stimmung im Raum kühlte merklich ab. Neubauer seufzte. Sie setzte ihr Sonntagslächeln auf und sagte: »Das haben wir natürlich nicht vor! Aber wir brauchen einen Raum. Wir müssen herausfinden, wer zu einer bestimmten Zeit auf seinem Zimmer war. So schnell wie möglich, bevor die besorgten Nachbarn aktiv werden!«
Sie warf einen Seitenblick auf Adam.
Adam ignorierte ihren Blick. Er wusste, dass der Betreuer recht hatte. Die Befragung würde ein Problem werden. Von dem Sprachproblem ganz zu schweigen. Er seufzte. Seine Augen wanderten über die Wände des Containers. Ein Fahrplan der U- und S‑Bahnen. Busverbindungen. Eine Deutschlandkarte. Zwei Poster mit der Überschrift: Toleranz. Auf dem einen zwei Frauen, die sich umarmten, auf dem anderen zwei Männer, die sich küssten. Adam vertiefte sich in eine Liste von Kursen und Aktivitäten, gegliedert nach Wochentagen und Veranstaltungs-Containern. Die Stimme des dunkelhäutigen Betreuers holte ihn zurück.
»Die Kantine… Da könnte es gehen! Das Essen ist durch. Ich zeige Ihnen, wo das ist.«
Adam nickte. »Gut, worauf warten wir?«
Auf dem Weg zischte Neubauer ihm zu: »Wenn du nicht aufhörst, mit diesem ›good Cop bad Cop Ding‹, beschwere ich mich!«
»Aha«
»Im Ernst! Frauenbeauftragte, Antirassismus Abteilung! Und zum Schluss gehe ich zum Alten!« Spätestens da war klar, dass sie bluffte.
Zwei Stunden später waren sie nicht viel weitergekommen. Sie hatten in viele entsetzt aufgerissene Augenpaare geblickt. Die meisten Bewohner waren einfach müde gewesen und hatten wenig verstanden. Die Verständigung war problematisch, sie kamen schnell an ihre Grenzen. Arabisch konnte der Betreuer dolmetschen – aber Somali und ein halbes Dutzend anderer Sprachen blieben unübersetzt.
Aminata streckte sich und schob die Schultern zurück. Ein junger Mann aus Afghanistan verschwand hinter der Tür. Adam folgte ihm mit den Augen. Er seufzte und richtete seinen Blick auf Hassan, ihren Übersetzer. »Ich habe nicht das Gefühl, dass es irgendwie vorangeht!«
Auch Hassan seufzte. »Was erwarten Sie? Die meisten verstehen nicht einmal annähernd, worum es geht. Diejenigen, die etwas ahnen, haben Angst vor Schwierigkeiten mit den deutschen Behörden. Dieses Schreckgespenst beherrscht ihre Gedanken – es löst einen sofortigen Fluchtimpuls aus. Sie möchten sich am liebsten in irgendeinem Loch verkriechen!«
Adam war müde. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt, und in naher Zukunft war keine Änderung dieses Zustands in Sicht. Er runzelte die Stirn. »Das bringt uns nichts. Wir machen morgen weiter!« Endlich zu einem Entschluss gekommen, ging es ihm gleich besser. »Können Sie uns garantieren, dass hier niemand über Nacht verschwindet?«
Hassan sah unwillkürlich hinüber zu dem schulterhohen Zaun. Er zuckte mit den Schultern. »Solange da keiner drüberklettert…« Seine Augen wanderten zu den Männern des Security Personals. Sie patrouillierten über das gesamte Gelände. »Keine Chance, würde ich sagen!«
»Achten sie besonders auf diejenigen Männer, die nicht nachweisen konnten, wo sie sich aufgehalten haben! Zehn…« Hassan sah ihn verständnislos an.
»Was ist mit Zen?«
»Nicht Zen! Es waren zehn Männer! Ich werde sie morgenfrüh befragen. Sorgen Sie nur für Dolmetscher!«
Der Rückweg zum Eingang führte zwischen dreistöckigen Containern hindurch. Auf den angeschraubten Außentreppen aus Lochblech kauerten vereinzelt Menschen und sahen ihnen hinterher. Das Licht der Scheinwerfer, die auf dünnen Masten hoch über ihnen ragten, war weißlich, aber schwach. Lange Schatten eilten ihnen voraus. Die Stimmung war seltsam, nachts verstärkte sich der Eindruck eines Lagers oder Gefängnisses. Der hohe grüne Metallzaun trug seinen Teil dazu bei. Adam fragte sich, ob er eher Menschen drinnen oder draußen halten sollte.
Ein Spielplatz. Zwei Autoreifen hingen über der Sandkiste an einem Gerüst. Sie schaukelten leicht im Wind. Als wären dort eben Kinder heruntergesprungen. Rechts vor ihnen tauchte der vergitterte Gang zum Security-Container auf. Adam hatte das Gefühl, sie würden beobachtet. Nicht nur von entfernten Silhouetten hinter Treppengeländern, er glaubte einen flüchtigen Schatten gesehen zu haben, der ihnen seit ihrem Abzug aus dem Küchencontainer folgte. Er verlangsamte seine Schritte und sah sich unauffällig um. Nichts zu sehen. Aber das Gefühl blieb.
»Spürst du das auch?«, Neubauer flüsterte. Sie hatte sich seinem Tempo angepasst und hielt sich dicht neben ihm.
»Alles was ich gerade spüre, ist bleierne Müdigkeit – und Lust auf ein Kaltgetränk!« Er grinste auf sie herab.
Sie funkelte zurück. »Sigi, verarsch mich nicht. Ich weiß, dass Du es auch bemerkt hast!«
»Aha. Vielleicht hast du recht. Nati die Weise…« Ihr dunkles Gesicht verschmolz mit der Nacht, aber der Zorn in ihren Augen war deutlich zu erkennen. Er seufzte.
»Selbst wenn – wir können nichts machen! Ich habe keine Fernbedienung für Flutlicht dabei. Auch kein SEK, das sich auf Verfolger stürzt.«
Sie hatten den Container am Eingangsbereich fast erreicht. Neubauer antwortete nicht. Nur an der Art, wie sie ging, konnte er ihre unterdrückte Wut ablesen.
»Nati, wir kommen morgen früh wieder. Dann gehen wir der Sache auf den Grund. Ich glaube nicht, dass wir hier jetzt weiterkommen.«
Vor der Einfahrt standen Polizeifahrzeuge. Bei einigen kreiselte noch das Blaulicht auf dem Dach. Die Scheinwerfer hatten sie erfasst und Neubauers Resignation wurde mit hoher Wattzahl ausgeleuchtet. Beim Auschecken trafen sie den Betreuer, der für sie Arabisch gedolmetscht hatte. Adam sah ihm nach, dabei bemerkte er die große Anzahl Zivilfahrzeuge vor dem Gelände. Wahrscheinlich besorgte Bürger. Damit nicht genug, standen kreuz und quer Transporter mit Werbeaufdrucken diverser Nachrichten- und Privatsender, die in diesem Moment ihre Insassen ausspuckten. Kaum hatten Adam und Neubauer den Sicherheitsbereich verlassen, wurden ihnen überdimensionale Mikrofone entgegengereckt.
Adam sah Neubauers besorgten Blick und beschloss, sich zusammenzureißen. Außerhalb des Zirkus‘ lehnte ein KTU Mitarbeiter an einem neutralen Wagen. Er war in Zivil, aber Adam hatte ihn erkannt und versuchte Blickkontakt.
»Stimmt es, dass ein Kind getötet wurde? Haben Sie einen der Flüchtlinge in Verdacht?«
»Hat die Tat einen islamistischen Hintergrund? Sind weitere Kinder gefährdet?«
»Haben die Anwohner Grund zur Beunruhigung? Ist das Asylantenheim eine Bedrohung für ihre Familien?«
»Wollen die uns einschüchtern?«
»Warum reagiert der Staat nicht? Müssen wir erst völlig hilflos sein?«
»Warum können die hier machen…«
Adam reichte es. »Lassen Sie uns durch! Wir haben zu tun!«
Das Stimmengewirr wurde ohrenbetäubend. Neubauer zog an seinem Jackenärmel. Ihr schwante nichts Gutes. Da brüllte ihr Chef schon: »Verdammt nochmal, die Show ist vorbei! Geht nach Hause Leute!«
Sie wies mit dem Kopf zur Seite. Dort schien es eine Öffnung in der Gruppe aufgeregter und zunehmend aggressiver Gesichter zu geben.
Adam stapfte mit Neubauer im Schlepptau auf die Lücke zu. Auf dem Weg schlug er Mikrofone zur Seite und hätte sich beinahe geprügelt, aber sie zerrte ihn weiter. Im Laufschritt ließen sie die Menge hinter sich. Der KTU Mitarbeiter öffnete ohne ein Wort die Beifahrertür. Neubauer rutschte nach hinten, Adam ließ sich auf den Beifahrersitz fallen.
»Uff, gerade noch!« Sie schüttelte sich. »Wie die Hyänen!«
»Wenn die eine Story wittern, sind sie erbarmungslos!«, der Kollege von der KTU zuckte die Schultern. »So läuft das nun Mal…«
»Dazu noch die besorgten Anwohner«, murmelte sie.
Adam räusperte sich.
»Vielen Dank für’s Warten!«
Der Mann knurrte noch seine Erwiderung, als Adam schon weitersprach: »Wie sieht es mit Spuren am Fundort aus? Habt ihr was für uns?«
Der Mann antwortete nicht, er starrte nervös durch die Windschutzscheibe. Draußen drehten sich Gesichter zu ihnen um. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Reporter und Anwohner sich auf den Weg machen würden.
»Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, diesen beschaulichen Flecken zu verlassen? Wo steht ihr Wagen? Soll ich Sie hinbringen, oder holen Sie ihn morgen?«
Seinen Wagen, morgen? Auf keinen Fall! Wortlos wies Adam den Weg. Als kurz darauf sein Mustang Shelby in Sicht kam, pfiff der Kollege von der Spurensicherung anerkennend. »Hatte ich fast vergessen! Klar! Kommissar Adam mit dem Mustang!«
Auf dem Rücksitz verdrehte Neubauer die Augen. Männer! Aber sie wusste natürlich, warum der Wagen heute auf keinen Fall irgendwo stehen bleiben konnte.
»Könnten wir bei der Sache bleiben? Welche Ergebnisse hat die Spusi aus dem Hut gezaubert?«
Während die Innenbeleuchtung stufenweise erlosch, erfuhren Adam und Neubauer, dass die Voruntersuchungen ihre Vermutungen bestätigten. Das Kind war missbraucht worden. Nach jetzigem Sachstand hatte der Missbrauch nicht am Fundort stattgefunden. Der Tod war unmittelbar vor dem Auffinden eingetreten. Warum der Täter das Kind nicht vorher getötet hatte, war unklar. Möglicherweise hatte er sein Opfer während der Tat lediglich am Schreien hindern und es sich danach vom Hals schaffen wollen. Erst am Ablegeort hatte er vielleicht die potentielle Gefahr eines Augenzeugen erkannt.
Sie saßen einen Moment lang schweigend im Dunkeln. Dann räusperten Adam und Neubauer sich beinahe gleichzeitig und schälten sich aus ihren Sitzen.
Adam fummelte den Schlüssel des Mustangs ins Schloss. Kaum hatte er die Tür geöffnet, hoben sich auf dem Beifahrersitz zwei Augenschlitze aus einem kleinen Berg aus Fell. Kurz darauf war ein winziger Kopf zu erkennen, vier Pfoten, das Bündel streckte sich und gähnte ausgiebig. Adam beugte sich hinüber und zog den Entriegelungsknopf. Dann hob er den Hund hoch, und wartete bis Neubauer sich gesetzt hatte. Nachdem sie ihm das Tier abgenommen hatte, vergrub sie ihr Gesicht in dem weichen Fell.
»Diese junge Dame ist einfach unwiderstehlich!«
»Sie geht heute noch zurück an den Absender…«
»Schade eigentlich. Mit ihr hätten wir morgen vielleicht einen Sympathiebonus bei den Befragungen.«
Adam startete den Motor.
»Hm. Meinst Du? Ist Hund nicht bei Arabern ein schlimmeres Schimpfwort als Schwein?«
»Kann schon sein. Aber hey, wir sprechen hier von Chica!«
Sie sah Adam an. Er seufzte. Frauen hatten immer diesen beseelten Blick, wenn es um den Hund ging. Außer Sophia natürlich. Andererseits. Jetzt überlegte er tatsächlich ernsthaft, ob sie Recht haben könnte. Er setzte seine Kollegin trotz Umweg in Barmbek ab und fuhr weiter nach Altona.
Chica, der Norfolk Terrier seiner Tochter, wurde ihm immer dann von seiner Exfrau aufs Auge gedrückt, wenn ihr gemeinsames Kind ohne Hund verreisen musste. Nicht, dass er etwas dagegen gehabt hätte, auf das Tier aufzupassen. Jedenfalls hatte sich auch nach einer alkoholisierten gemeinsamen Nacht nichts an diesem Arrangement geändert. Sie hatten jene Nacht in einer Mischung aus Sentimentalität und Trotz miteinander verbracht und seitdem kein Wort mehr darüber verloren. Seine Ex lebte in Trennung von wiederum ihrem Ex. Irgendwie amüsant. Hätte der Typ ihr nicht ab und zu eine geknallt. Und seine Tochter die Ohrfeigen nicht mitbekommen. Adam knirschte mit den Zähnen. Seine Tochter, die eigentlich die Tochter dieses Arschlochs war. Aber das wusste zum Glück nur er allein. Das war gut und sollte so bleiben. Aber diese Nacht… Er wusste nicht mal genau, was passiert war, ob etwas passiert war! Sie hatten beide zu viel getrunken. Er fuhr in die Garage. Nun war es sowieso zu spät. Er würde den Hund morgen, wenn die Befragung beendet war, nach Volksdorf bringen. Seine Tochter kam morgen Mittag von ihrer Klassenreise zurück. Bis zum frühen Abend würde sie Chicas Abwesenheit verschmerzen können.
Adam stöhnte, als ihn durch nachlässig vorgezogene Gardinen ein Sonnenstrahl traf. Kaum war er halbwegs wach, nahm das Gedankenkarussell Fahrt auf: Seine Tochter Louisa, seine Exfrau Sophia und ihr frischgebackener Exmann, der sie geschlagen hatte. Und die Nacht mit ihr…
Verdammt! Schlafen war gerade gestorben. Adam warf die Bettdecke zurück und schlurfte in die Küche. Als erstes erweckte er die Cappuccinomaschine zum Leben. Dann füllte er Hundefutter in den Napf. Während der Kaffee durchlief, sah er dem Hund beim Fressen zu. Er ließ ihn kurz in den Innenhof, bevor er wieder unter die Bettdecke kroch und sich mit seinem Kaffeebecher ans Kopfkissen lehnte.
Abwesend pustete er auf die heiße Flüssigkeit. Seine privaten Probleme ließen sich im Moment nicht lösen.
Dieser Mord an dem Kind nahm ihn mit. Abgesehen von persönlichen Gefühlen, gab es unzählige Fragen zu klären. Das öffentliche Interesse an diesem Fall irritierte ihn zusätzlich. Zur Identifizierung des Kindes hatte es bisher nicht beigetragen. Stattdessen zwang es sie, jede Aussage auf die Goldwaage zu legen. Dazu wurde eine ungemütliche Atmosphäre aus Vermutungen und Vorurteilen geschaffen. Er leerte den Becher. Er würde den Täter finden, Moslem oder Christ oder Atheist! Ein Blick auf die Uhr katapultierte ihn aus dem Bett.
Adam hatte sich in seinen Jogging-Anzug gequält. Er schnürte die Schuhe und steckte Chicas Leine in die Hosentasche. Seit kurzem hatte er die Freude an seinem morgendlichen Ritual verloren. Er lief die gleiche Strecke wie immer, fast immer zur gleichen Zeit, aber sie hatte er schon seit Wochen nicht mehr getroffen. Es war fast, als würde sie ihn meiden. Er musste sich zwingen, seine Routine aufrechtzuerhalten. Vielleicht war er ein Feigling, aber anrufen würde er sie nicht. Noch war er nicht so weit. Sein Weg führte ihn hinunter an die Elbe. Normalerweise liebte er den Blick aufs Wasser. Heute rannte er verbissen durch den Sand. Extra neben dem Steg, so wie sie. Obgleich es unglaublich anstrengend war. Der Hund sprang fröhlich um ihn herum. Auf dem Rückweg machte er den üblichen Abstecher zu dem kleinen Portugiesischen Café. Auch hier war sie nicht. Mürrisch bestellte er einen doppelten Bica und eine portugiesische Kalorienbombe. Dann fragte er am Tresen nach Leo. Maria wich aus. Sie schien mit einem Mal sehr beschäftigt, und er konnte sehen, wie sie grimmig das Gesicht verzog. Was war nur los? Adam zahlte und machte sich lustlos über seine Nata her. Nach der Hälfte schob er den Teller beiseite. Ihm wurde langsam kalt. Er stürzte den letzten Tropfen Koffein hinunter und trabte nach Hause.
Im Büro begegnete er hochgezogenen Augenbrauen und verzückten Ausrufen. Letztere hauptsächlich von weiblichen Kollegen. Andreas Guenther aus seinem Team kam ihm entgegen. Er warf einen Blick auf den Hund und grinste breit.
»Ah! Der Chef hat eine neue Klobürste besorgt! Wurde auch Zeit!«
Adam ging an ihm vorbei in sein Büro. Kai von Wendsheim und Aminata Neubauer saßen an ihren Schreibtischen. Von Wendsheim blickte von seinem Computer auf. Er hatte Guenther gehört und sagte: »Mensch Andreas, du Vollpfosten! Das sieht doch ein Blinder, dass das keine Klobürste ist! Der Chef hatte halt noch keine Zeit zum Rasieren!« Er machte ein nachdenkliches Gesicht. »Aber warum ziehst du den Pinsel hinterher?«
»Wirklich witzig! Genau das Niveau, das ich erwartet hatte. Leider keine Überraschung!«
Er wurde unterbrochen, als die Tür sich hinter ihm öffnete. Der Alte steckte den Kopf herein. Er sah den Hund und erstarrte.
»Adam, was soll das werden? Wollen Sie hier einen Streichelzoo einrichten?« Kurt Walther schüttelte den Kopf. »Kommen Sie bitte alle in mein Büro. Sofort!« Er warf noch einen Blick auf Chica. »Ohne den Hund!«
Auf dem Schreibtisch von Kurt Walther lagen Ausgaben verschiedener Boulevardzeitungen. Die Schlagzeilen sprangen ins Auge: Hamburger Polizei bestreitet Schuld von Flüchtlingen! und Wer wird hier geschützt? waren die gemäßigten Varianten.
Walther tippte wortlos mit dem Zeigefinger auf die Überschriften. Adam wartete einige Sekunden, dann sagte er: »Wegen diesem Mist sollten wir hoffentlich nicht unsere Arbeit unterbrechen?!«
Der Alte seufzte.
»Adam, Adam!« Während er noch an seine Betablocker dachte, brüllte er schon los: »Doch, genau das sollten Sie! Weil es nämlich wichtig ist, wie diese Regenbogen-Presse über uns berichtet! Sie kann uns die Arbeit erleichtern oder erschweren, die Wahl liegt bei Ihnen!« Er schüttelte den Kopf. »Sein Sie doch nicht so verbohrt!«
Adam nickte mit unbewegtem Gesicht.
»Okay, verbohrt war gestern! Können wir jetzt weiterarbeiten?«
»Arbeiten? Sie schienen mir eher ihr Hündchen Gassi zu führen!« Walther sackte leicht in sich zusammen. Ich darf mich nicht aufregen, drückte seine Miene aus.
Adam zuckte die Achseln.
»Psychologische Kriegsführung, wenn Sie so wollen. Der Hund bringt uns Sympathiepunkte bei den Befragungen ein.«
Seine Augenbraue klebte schon wieder knapp unter seinem Haaransatz.
»In Gottes Namen, dann nehmen Sie den Köter halt mit. Aber wehe, mir kommen Beschwerden zu Ohren! Irgendwann könnten selbst Ihre Sympathiepunkte überreizt sein!«
Zurück in ihrem Büro feixte Guenther: »Unser Chef hat Sympathiepunkte! Ich kenn das von meiner Nichte. Das Sams. Das hatte auch so Punkte…«
»Andreas, wenn Du nicht gleich die Klappe hältst, vergesse ich mich…«
»Kai, Aminata! Habt Ihr das gehört? Unser Chef droht mir, massiv sogar!«
»Falls er Hilfe braucht… Aminata, bist du dabei?«
Sie nickte. Guenther schmollte. Adam musterte die drei Kommissare ernst.
»Der Junge ist zwischen neun und elf Jahre alt. Er wurde missbraucht, erwürgt. Wer kommt mit in die Rechtsmedizin?«
Schlagartig verstummten die Kommentare.
»Andreas, bist du dabei?«
Der Angesprochene schluckte. »Klar«
Adam nickte. »Gut, das wäre geklärt. Kai und Aminata, ihr kümmert euch um die Hinweise von der KTU. Nach der Leichenschau kommt Aminata mit mir ins Flüchtlingslager.«
Er schmunzelte. »Wir nehmen unseren Sympathiepunktebonus mit…«
Die Fähre pflügte durch den aufgewühlten Atlantik. An Deck nur eine einsame Gestalt, rote Locken, vom Sturm zerzaust. Die übrigen Passagiere saßen im beheizten Fahrgastraum. Sie trotzten dem Wetter lieber hinter zerkratzten, von Gischt verschlierten Scheiben mit Irish Coffee oder heißem Tee.
Eva Leonora Johann starrte ins Grau. Meer und Himmel waren kaum zu unterscheiden. Im Schiffsbauch stampften die beiden Dieselmotoren und brachten ihren Magen zum Vibrieren. Sie mochte das Gefühl. Genau wie das vom Wind zerhackte Möwengekreisch und die Schaumkronen auf den Wellen. Ein perfekter Moment. Fast. Sturm und Kälte konnten ihre Erinnerung nicht betäuben. Zuerst stieg Adam kurz darin auf. Aber das Problem war der Andere. Noch nie hatte jemand sie so verunsichert. Ihre Hände an der Reling waren beinahe gefühllos, sie pustete abwesend hinein, versenkte sie in den Jackentaschen.
Vor zwei Wochen war sie dem Schotten nach Schottland gefolgt. Rückblickend ein Fehler. Doch wenige Männer hatten sie bisher ernsthaft interessiert, auch diesmal hatte sie sich in Sicherheit gewähnt. Zweiter Fehler. Die Sache war irgendwann aus dem Ruder gelaufen, so viel stand fest. Heißes Begehren hatte sie nicht zum ersten Mal erlebt, doch was dann folgte, war etwas völlig Neues. Das zarte Erkunden einer verletzten Seele. Ungewohnt, verwirrend, etwas hatte sie in ihrem Innersten berührt. Danach jedoch – keine Erfüllung. Keine Befriedigung im herkömmlichen Sinne. Der dritte Fehler war eindeutig, dass sie nicht sofort das Weite gesucht hatte. Stattdessen hatte sie zugelassen, dass er sie zurückwies. Immer wieder. Denn jedes Mal, wenn das Sehnen unerträglich wurde, war er abgetaucht. Auf die Jagd, schwimmen, fischen. Fort. Bevor sie vollends verrückt wurde, hatte sie die Konsequenzen gezogen. Jetzt spürte sie wieder den eisigen Wind auf ihrem Gesicht, Meersalz mischte sich mit dem Salz aus ihren Augen. Sie wischte mit der Hand darüber. Sie musste endlich nach Hause
.
Die Pathologie. Guenther schauderte. Eigentlich war er ein harter Hund, aber hier unten bröckelte seine Fassade. Allein die Lage dieser Abteilung sprach Bände – im Keller. Die Leichen wurden im Untergeschoss aufbewahrt und untersucht. Eine Art Vorhölle. Er spürte leichtes Sodbrennen aufsteigen. Diesen Gang war er unzählige Male entlang gegangen. Trotzdem verspannten sich seine Muskeln jedes Mal aufs Neue. Seine Anspannung war so groß, dass er fröstelte. Und diesmal war es auch noch ein Kind! Er senkte den Kopf zwischen die Schultern und stapfte hinter Adam her. Für den musste es viel schlimmer sein. Schließlich hatte Adam eine Tochter. Einige Sekunden lang überlegte Guenther ernsthaft, ob er sich vor der Leichenschau drücken könnte. Aber eine gewisse Loyalität zu Adam hinderte ihn daran. Außerdem würde es in Windeseile die Runde machen… Also Augen schließen und durch! Adam drehte sich nach ihm um. War sein Unbehagen so offensichtlich? Er riss sich zusammen.
Adam hob eine Augenbraue. Hoffentlich kippte Andreas nicht um. Er hatte mit sich selbst genug zu tun, er konnte nicht noch Babysitter für seinen normalerweise hartgesottenen Kollegen spielen. Er seufzte. Es gab so Momente… Manchmal wünschte er sich, mit gewissen Dingen nichts zu tun haben zu müssen. Er tröstete sich im Allgemeinen damit, dass er es war, der die Schuldigen der Gerechtigkeit zuführte. Wobei Schuld manchmal ein sehr dehnbarer Begriff war.
Ungeduldig legte er in der Herrenumkleide die vorgeschriebene Schutzkleidung an. Nur Kittel, Überschuhe und Haarnetz, das war Pflicht, auf den Rest verzichtete er. Guenther folgte seinem Beispiel, obwohl er aussah, als hätte er sich auch über Augenbinde und Nasenklammer gefreut.
Adam stieß die Tür auf. Eindeutig zu viele Menschen im Raum, trotz des großen Sektionsraums, in dem drei Obduktionstische Platz fanden. Außer Mac Allistair und seinem Assistenten standen zwei weitere Personen vor dem Stahltisch, auf dem das Opfer lag. Er hätte es sich denken können! Dieser Fall mit seinen politischen Fallstricken – klar, dass das LKA mitmischen würde!
»Robert, Claudia… ihr seid also immer noch vergnügungssüchtig!«
Guenther, der widerstrebend hinter Adam den Raum betreten hatte, vergaß für einige Sekunden sein Unwohlsein. Auch er kannte die beiden Ermittler vom LKA. Man nickte sich zu.
»Ist es also wieder soweit?«, Adam richtete seinen Blick auf Robert van Veen. Der war Leiter von einer der sechs Mordbereitschaften des LKA. Sie hatten in der Vergangenheit wiederholt zusammengearbeitet.
Der Angesprochene betrachtete für einen Moment den viel zu kleinen Körper auf der stählernen Unterlage.
»Glaube mir«, erwiderte er endlich tonlos, »dieses Mal hätte ich gern darauf verzichtet!«
Inzwischen kämpfte Guenther wieder mit seiner Übelkeit. Adam wartete innerlich auf eine von Calabreses bissigen Bemerkungen, aber sie hielt sich erstaunlicherweise zurück. Mac Allistair räusperte sich.
»Wenn wir dann alle soweit wären…«
Zwischendurch sah auch Adam das eine oder andere Mal zur Seite. Sein Gesicht blieb unbewegt.
Guenthers‘ Blässe spielte mittlerweile ins Grünliche. Sein Blick wanderte von dem Körper zu dem Beistelltisch aus Stahl. Ein Instrument sah aus wie eine Suppenkelle, ein anderes wie ein gewöhnliches Brotmesser. Guenther würgte. Calabrese hob die Brauen. Zwei perfekte Bögen, wie Rabenflügel über unnatürlich blauen Seen. Guenther hustete und versuchte, seinen Brechreiz zu unterdrücken. Adam bedeutete ihm mit einem Kopfnicken, vor die Tür zu gehen. Guenther gehorchte, wütend ob seiner Hilflosigkeit. Er zog die Tür hinter sich zu, und Adam im gleichen Augenblick hörbar die Luft ein. Endlich! Er wandte sich wieder Mac zu.
»Nochmal, sorry, ich war abgelenkt… Du sagst, das Opfer wurde nicht zum ersten Mal vergewaltigt?«
MacAllistair seufzte vernehmlich.
»Richtig! Kurz bevor er erwürgt wurde, hatte er sexuellen Verkehr. Analverkehr. Aufgrund des vernarbten Gewebes können, müssen wir davon ausgehen, dass es sich nicht um das erste Mal handelte.«
Verdammte Scheiße, dachte Adam, was für ein Albtraum! Er warf einen Blick auf van Veen. Der erwiderte den Blick mit einem: Hab ich es nicht gesagt… Ausdruck.
»Wie sieht es mit Spuren aus?«, fragte Claudia Calabrese. »Sperma, Fasern, Hautpartikel unter den Fingernägeln, das Übliche…«
Mac Allistair schüttelte den Kopf.
»Bis jetzt negativ.« Er betrachtete eingehend das Klemmbrett in seiner Hand. Als wenn er die Ergebnisse nicht auswendig wüsste. »Wir sind natürlich dran. Einige Untersuchungen stehen aus. Die müssten wir in den nächsten fünf bis sechs Stunden haben. Aber wir können mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass es sich nicht um ein in Deutschland aufgewachsenes Kind handelt!«
»Aha«, sagte Adam wieder einmal.
»Welchem Umstand verdanken wir diese Erkenntnis?«
Mac Allistair musterte ihn mit gerunzelter Stirn.
»Anhand verschiedener Indizien gehe ich davon aus, dass der Junge aus Osteuropa stammt. Rumänien vielleicht. Diese Hypothese basiert unter anderem auf dem Zustand der Zähne und der Ernährung des Opfers. Wir können das Alter mit ziemlicher Sicherheit auf neun Jahre festlegen. Das tatsächliche Wachstum stimmt allerdings nicht mit einer alterstypischen Entwicklung überein, so wie sie bei uns üblich wäre.«
Adam starrte auf den Boden. Fast beneidete er Guenther um seinen Abgang. Aber er nahm sich zusammen.
»Okay. Ich schlage eine Lagebesprechung in meinem Büro vor. Geplant war, dass ich mit Aminata in die Aufnahme fahre, Bewohner befrage, Alibis checke, etcetera, etcetera…. Wahrscheinlich wollt ihr, oder einer von euch, dabei sein?!« Die Resignation in seiner Stimme ließ sich nicht verbergen. Seine Betonung von: Einer von euch, veranlasste van Veen zu einem grimmigen Schmunzeln.
»Richtig! Wenn es dir recht ist, wird Brander euch begleiten!«
Wenn es dir recht ist, geschenkt! dachte Adam. Ob es ihm recht war oder nicht, spielte in diesem Fall keine Geige mehr. Van Veen war ab sofort der Chef. Aber offen gestanden – er freute sich auf Brander Amund Angerboda! Und er wusste auch, wer sich noch freuen würde!
Adam dachte noch an Aminata Neubauer, als er aus den Augenwinkeln sah, wie MacAllistair eine kleine Kreissäge über seinen Kopf hob. Die Polizisten konnten den Raum nicht schnell genug verlassen. Sie hörten noch Macs: »Endlich kann man in Ruhe arbeiten!«, und zogen die Tür hinter sich zu.
Guenther wanderte im Flur auf und ab und stand unvermittelt Calabrese gegenüber. Seine Gesichtsfarbe hatte mittlerweile einen gesünderen Farbton angenommen, aber ihr Auftauchen brachte ihn aus der Fassung. Schließlich versuchte er sich an seinem üblichen Grinsen. Sie musterte ihn von oben bis unten.
»Der Herr Kommissar waren wohl unpässlich? Wie bedauerlich! Zum Glück hatte er erwachsene Kollegen dabei.«
Adam kannte Guenther, und normalerweise hätte er in dieser Situation kein Mitleid mit ihm gehabt. Wäre es nicht Calabrese gewesen.
»Apropos, Claudia…. Seit wann spielst Du wieder mit?«
»Siegfried!«, sie lächelte, aber ihre Augen schossen Blitze. »Keine Sorge! Ich bin voll im Einsatz!« Ihre Lippen formten lautlos das Wort: Cretino!
Van Veen räusperte sich. »Claudia! Adam, du sprachst von einer Lagebesprechung. Wir sollten keine Zeit verlieren. Wir müssen mit den Befragungen beginnen! Ich habe mir erlaubt, Brander auf dein Revier zu bestellen. Er dürfte inzwischen eingetroffen sein. Also Aufbruch!«
Van Veen wollte sich während der Fahrt mit Adam besprechen und danach ins LKA Präsidium, deshalb musste Guenther bei Calabrese einsteigen. Er riss die Tür auf, pflanzte sich auf den Beifahrersitz und verfiel sofort in brütendes Schweigen. Auf der ganzen Strecke äußerte keiner ein Wort, aber bei der Ankunft war die Stimmung im Wagen hochexplosiv.
Angerboda war im Altonaer Revier eingetroffen. Das LKA hatte ihn angekündigt und daher wurde er bereits von Kriminaloberrat Walther erwartet. Eine Ehre, auf die er gern verzichtet hätte. Aber Angerboda war ein höflicher Mensch, und so saß er auf einem viel zu kleinen Besucherstuhl und antwortete geduldig auf die Art von Banalitäten, die er eigentlich verabscheute. Er warf einen unauffälligen Blick auf Walthers Schreibtischuhr. Wo zum Teufel blieb Adam? Außerdem wusste er, dass irgendwo nebenan Aminata in einem Büro saß. Das war genau der Ort, an dem er jetzt sein wollte. Er unterdrückte ein Seufzen. Seine Augen wanderten über Walthers Familienfotos an der Wand. Im Anschluss eine Reihe, auf der Walther mit Politik und Wirtschaft die Schultern rieb. Ein Weingut, irgendwo in Süddeutschland, Walther mit einem Glas in dem sich die Sonne spiegelte – neben ihm ein bekannter deutscher Politiker.
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